Dienstag, 26. Februar 2013

"SPÄTE GEDANKEN" aus "ERINNERUNGEN, TRÄUME, GEDANKEN" von Carl Gustav Jung

"Späte Gedanken" von C. G. Jung...

Dieser Beitrag enthält einige Ausschnitte aus Carl Gustav Jungs Autobiographie "Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung". Noch kurz vor seinem Tod hat C. G. Jung seiner Mitarbeiterin Aniela Jaffé wesentliche Gedanken über sein Leben und Werk mitgeteilt und sie mit der Aufzeichnung und Edition betraut. Einzelne Teile des Buches hat er selber verfasst.

Link zum Buch (PDF): 
http://www.mahs.at/es...
Hier könnt ihr das Buch bestellen:
http://www.buch.de/buch/1756...

Folgendes sind Ausschnitte aus dem vorletzten und dem letzten Kapitel des Buches ("späte Gedanken" und "Rückblick"). In diesen Kapiteln resümmiert Jung seine zu Lebzeit gesammelten Erkenntnisse und Ansichten bezüglich der Transzendentalität des Seins und der Möglichkeit einer subjektiven Wahrheitsfindung das "Ewige Sein" betreffend.

(Bitte entschuldigt eventuelle Rechtschreibfehler und die vielen überflüssigen Leerstellen, welche die Wörter trennen. Über das Entfernen der Zeilenumbrüche hinaus, hätte es unglaublich viel Mühe in Anspruch genommen sämtliche überflüssige Leerstellen aus der kopierten Version zu entfernen. Meiner Auffassung nach ist es auch so lesbar...)

"Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung"

Kapitel "späte Gedanken":

Abschnitt II (S. 344):

"Es gibt kein besseres Mittel, das Individuum vor dem Verfließen mit den anderen zu schü tzen, als den Besitz eines Geheimnisses, das es hüten will oder hüten muß. Schon die Anfänge der Gesellschafts bildung lassen das Bedürfnis nach Geheimorganisationen erkennen. Wo kein aus zureichenden Gründen zu hütendes Geheimnis be steht, werden «Geheimn isse» erfunden oder zurechtgedreht, die dann von den privilegierten Eingeweihten «gewußt» und «verstanden» werden. Dies war bei den Rosenkreuzern und vielen anderen der Fall. Unter diesen Pseudogeheimnissen gibt es - ironischer weise - von den Eingeweihten ganz und gar nicht gewußte wirkliche Geheimnisse, z. B. in jenen Gesellschaften, die ihr «Geheimnis» vorzüglich der alchemistischen Tradition entnommen haben.

Das Bedürfnis nach Geheimtuerei ist auf primitiver Stufe von vitale r Bedeutung, indem das gemeinsame Geheimnis den Zement für das Zusammenhalten hergibt. Das Geheimnis auf der sozialen Stufe bedeutet eine hilfreiche Kompensation für den Mangel an Zusammenhalt der individuellen Persönlichkeit, welche durch be ständige Rück fälle in die ursprüngliche, unbewußte Identität mit den anderen immer wieder auseinanderbricht. Die Erreichung des Ziels, nämlich eines seiner Eigenart bewußten Individuums, wird dadurch zu einer langen, fast hoffnungslosen Erziehungsarbeit, weil auch die Gemeinschaft einzelner, durch Initiation bevorzugter In dividuen doch nur wieder durch unbewußte Identität bewerkstelligt wird, wenn es sich hier auch um eine sozial differenzierte Identität handelt. ...

Die Geheimgesellschaft ist eine Zwischenstufe auf dem We g zur Individuation: man überläßt es noch einer kollektiven Organi sation, sich von ihr differenzieren zu lassen; d. h. man hat noch nicht erkannt, daß es eigentlich die Aufgabe des Einzelnen ist, von allen ändern unterschieden auf eigenen Füßen zu stehen. Der Er füllung dieser Aufgabe treten alle kollektiven Identitäten, wie Zu gehörigkeit zu Organisationen, Bekenntnis von - ismen und derglei chen, hindernd in den Weg. Es sind Krücken für Lahme, Schilde für Ängstliche, Ruhelager für Faule, Kinderstuben für Unverant wortliche, ebensosehr aber auch Herbergen für Arme und Schwa che, schützender Port für Schiffbrüchige, ein Familienschoß für Waisen, ein ersehntes glorreiches Ziel für enttäuschte Irrfahrer und müde Pilger, eine Herde und ein sicheres Gehege für v erlaufene Schafe und eine Mutter, die Nahrung und Wachstum bedeutet. Es wäre darum unrichtig, die Zwischenstufe als Hindernis zu betrach ten; sie bedeutet im Gegenteil auf längste Zeit hinaus die einzige Existenzmöglichkeit des Individuums, das heutzutage mehr denn je durch Namenlosigkeit bedroht erscheint. Sie ist in unserer Zeit noch so wesentlich, daß sie vielen mit einem gewissen Recht als endgültiges Ziel gilt, während jeder Versuch, dem Menschen die Möglichkeit eines weiteren Schrittes auf dem Weg der Selbstän digkeit nahezulegen, als Anmaßung oder Vermessenheit, als Phan - tasma oder als Unmöglichkeit erscheint.

Es kann aber trotzdem sein, daß jemand aus zureichenden Grün den sich veranlaßt sieht, den Weg ins Weite auf eigenen Füßen zu unternehmen, weil er in allen ihm angebotenen Hüllen, Formen, Gehegen, Lebensweisen, Atmosphären die ihm nötige nicht findet. Er wird allein gehen und seine ihm eigene Gesellschaft darstellen. Er wird seine eigene Vielheit sein, welche aus vielerlei Meinungen und Tendenzen besteht. Diese gehen aber nicht notwendigerweise in derselben Richtung. Er wird im Gegenteil mit sich selber im Zweifel sein und große Schwierigkeiten darin finden, sein eigenes Vielerlei 2u gemeinsamer Aktion zusammenzubringen. Auch wenn er äußerlich durch die sozialen Formen der Zwischenstufe geschützt ist, so besitzt er damit noch keinen Schutz gegen das innere Vieler lei, das ihn mit sich selber veruneint und ihn dem Abweg in die Identität mit der äußeren We lt überantwortet.

Wie sich der Eingeweihte mit dem Geheimnis seiner Gesellschaft diesen Abweg in eine undifferenzierte Kollektivität verlegt, so be darf auch der Einzelne auf seinem einsamen Pfade eines Geheim nisses, das man aus irgendwelchen Gründen nich t preisgeben darf oder kann. Ein derartiges Geheimnis zwingt ihn zur Isolierung in seinem individuellen Vorhaben. Sehr viele Individuen können diese Isolierung nicht ertragen. Sie sind die Neurotiker, welche not gedrungen Versteck mit den anderen sowohl wi e mit sich selber spielen, ohne das eine oder andere wirklich ernst nehmen zu kön - nen. Sie opfern in der Regel ihr individuelles Ziel ihrem Bedürfnis nach kollektiver Angleichung, wozu sie alle Meinungen, Überzeu gungen und Ideale der Umgebung aufmuntern. Gegen letztere gibt es zudem keine vernünftigen Argumente. Allein ein Geheimnis, das man nicht verraten kann, d. h. ein solches, das man fürchtet, oder das man nicht in beschreibende Worte zu fassen vermag (und das darum anscheinend in die Kategorie des «V errückten» gehört), kann den sonst unvermeidlichen Rückschritt verhindern.

Das Bedürfnis nach einem derartigen Geheimnis ist in vielen Fäl len dermaßen groß, daß Gedanken und Handlungen erzeugt wer den, die man nicht mehr verantworten kann. Dahinter steht öfters keine Willkür und kein Übermut, sondern eine dem Individuum unerklärliche dira necessitas, die den Menschen mit ruchloser Schicksalshaftigkeit anfällt und ihm vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben das Vorhandensein von Stärkerem und Fremdem in s einer eigensten Domäne, wo er Herr zu sein wähnte, ad oculos demonstriert.

Ein anschauliches Beispiel ist die Geschichte von Jakob, der mit dem Engel rang, eine ausgerenkte Hüfte davontrug, aber eben da durch einen Mord verhin derte. Der damalige Jakob war in der vor teilhaften Lage, daß ihm jedermann seine Geschichte glaubte. Einem heutigen Jakob würde nur ein vielsagendes Lächeln begeg nen. Er wird es vorziehen, von solchen Angelegenheiten besser nicht zu sprechen, besonders n icht, wenn er sich private Ansichten über den Boten Jahwes bilden sollte. Damit ist er nolens volens in den Besitz eines nicht zu diskutierenden Geheimnisses gelangt und scheidet aus dem Kreise der Kollektivität aus. Natürlich wird seine «reservatio mental is» doch an den Tag kommen, wenn es ihm nicht gelingen sollte, zeit seines Lebens zu heucheln. Neurotisch aber wird jeder, der zugleich beides zu tun versucht, der sein indi viduelles Ziel verfolgen und sich der Kollektivität anpassen möchte. Ein solcher « Jakob» hat sich nicht zugegeben, daß der En gel doch der Stärkere war, denn es verlautete nachher nichts davon, daß der Engel etwa auch gehinkt hätte.

Wer also, veranlaßt durch seinen Daimon, den Schritt über die Grenze der Zwischenstufe hinaus wagt, kommt recht eigentlich in das «Unbetretene, nicht zu Betretende», wo keine sicheren Wege ihn führen und kein Gehäuse ein schützendes Dach über ihn brei tet. Es gibt dort auch keine Gesetze, falls er einer Situation begeg nen sollte, welche nicht vorgesehen war, z. B. einer Pflichtenkolli sion, die man nicht übers Knie brechen kann. Gewöhnlich dauert der Ausflug in «No Man's Land» nur so lange, als eine derartige Kollision sich nicht anmeldet, und kommt raschestens zu Ende, wenn sie auch nur von ferne gewittert w ird. Wenn dann einer Reißaus nimmt, so kann ich es ihm nicht verdenken. Aber daß er sich aus seiner Schwäche und Feigheit ein Verdienst zurechtlegt, das kann ich nicht billigen. Da ihm meine Verachtung weiter kei nen Schaden tut, kann ich sie ruhig ausspre chen.

Riskiert aber einer die Lösung einer Pflichtenkollision aus eigen ster Verantwortung und vor einem Richter, der Tag und Nacht über ihn verhandelt, so ist er gegebenenfalls in die Situation des «Einzelnen» versetzt. Er besitzt ein Geheimnis, das kein e öffentli che Diskussion erträgt, schon darum nicht, weil er sich vor sich sel ber schonungslos Anklage und zähe Verteidigung verbürgt hat, und kein weltlicher oder geistlicher Richter ihm den Schlaf zurückgeben könnte. Wenn er deren Entscheidungen nicht schon bis zum Über druß kennte, so würde es auch nie zu einer Pflichtenkollision ge - kommen sein. Letztere setzt immer ein höheres Verantwortungsbe wußtsein voraus. Aber eben gerade diese Tugend ist es, die ihm die Anerkennung eines Kollektiventscheides verbietet. Damm ist der Gerichtshof der Außenwelt in die Innenwelt versetzt, wo hinter geschlossenen Türen der Entscheid gefällt wird.

Diese Veränderung aber verleiht nun dem Individuum eine vor dem unbekannte Bedeutu ng. Es ist nicht nur sein wohlbekanntes und sozial definiertes Ich, sondern auch die Verhandlung darüber, was es an und für sich wert ist. Nichts steigert mehr die Bewußt - werdung als diese innere Gegensatzkonfrontation. Nicht nur die Anklage legt bisher un geahnte Tatsachen auf den Tisch, sondern auch die Verteidigung muß sich auf Argumente besinnen, an die niemand vorher gedacht hätte. Nicht nur ist damit einerseits ein be trächtliches Stück der Außenwelt ins Innere gelangt, sondern die Außenwelt ist auch u m dieses Stück verarmt oder entlastet worden; andererseits hat aber die Innenwelt an Gewicht ebensoviel zuge nommen, als sie zum Rang eines Tribunals der ethischen Entschei dung emporgestiegen ist. Das vordem sozusagen eindeutige Ich ver liert die Prärogat ive des bloßen Anklägers und tauscht dagegen den Nachteil ein, auch Angeklagter zu sein. Das Ich wird ambivalent und zweideutig und gerät sogar zwischen Hammer und Amboß. Es wird einer ihm übergeordneten Gegensätzlichkeit gewahr.

Längst nicht alle Pflichte nkollisionen, und vielleicht überhaupt keine, werden wirklich «gelöst», auch wenn über sie bis zum jüng sten Tag argumentiert und diskutiert würde. Eines Tages ist die Entscheidung einfach da, offenbar durch eine Art Kurzschluß. Das praktische Leben kann s ich nicht in einem ewigen Wider spruch suspendieren lassen. Die Gegensatzpaare und ihr Wider spruch verschwinden aber nicht, obwohl sie für einen Moment hinter den Impuls zum Handeln zurücktreten. Sie bedrohen be ständig die Einheit der Persönlichkeit und verwickeln das Leben auch immer wieder in Widersprüche.

Die Einsicht in diesen Sachverhalt läßt es ratsam erscheinen, zu Hause zu bleiben, d. h. die Kollektivgehege und - gehäuse nie zu verlassen, weil nur diese einen Schutz vor inneren Konflikten ver sprec hen. Wer nicht Vater und Mutter verlassen muß, ist bei ihnen sicherlich am besten aufgehoben. Nicht wenige aber finden sich auf den individuellen Weg hinausgestoßen. Sie werden in kürzester Frist das Ja und das Nein der menschlichen Natur kennen lernen. Wi e alle Energie aus dem Gegensatz hervorgeht, so besitzt auch die Seele ihre innere Polarität als unabdingbare Voraussetzung ihrer Lebendigkeit, wie schon Heraklit erkannt hat. Theoretisch sowohl wie praktisch ist sie allem Lebe ndigen inhaerent. Dieser mächtigen Bedingung steht die leicht zerbrechliche Einheit des Ich gegenüber, die nur mit Hilfe unzähliger Schutzmaßnahmen allmählich im Laufe der Jahrtausende zustandegekommen ist. Daß ein Ich über haupt möglich war, scheint davon herzurühren, daß alle Gegensätze sich auszugleichen streben. Dies geschieht im energetischen Prozeß, der im Zusammenstoß von heiß und kalt, hoch und tief usw. seinen Anfang nimmt. Die dem bewußten seelischen Leben zugrundelie gende Energie ist diesem prae existent und darum zunächst unbe - wußt. Nähert sie sich aber der Bewußtwerdung, so erscheint sie zunächst projiziert in Figuren wie Mana, Götter, Dämonen usw., deren Numen die lebensbedingende Kraftquelle zu sein scheint und es praktisch darum auch ist, so lange sie in dieser Form an geschaut wird. In dem Maße aber, als diese Form verblaßt und un wirksam wird, scheint das Ich, d. h. der empirische Mensch, in den Besitz dieser Kraftquelle zu geraten und zwar in vollstem Sinne dieses zweideutigen Satzes: einer seits sucht man sich dieser Energie zu bemächtigen bzw. in deren Besitz zu gelangen oder wähnt sogar, sie zu besitzen; anderseits ist man von ihr besessen.

Diese groteske Situation kann allerdings nur dort eintreten, wo allein die Bewußtseinsinhalte als ps ychische Existenzform gelten. Wo dies der Fall ist, kann die Inflation durch rückkehrende Pro jektionen nicht vermieden werden. Wo man aber die Existenz einer unbewußten Psyche zugibt, da können die Projektionsinhalte in an geborene instinktive Formen, die dem Bewußtsein vorausgehen, re zipiert werden. Dadurch wird ihre Objektivität und Autonomie er halten und die Inflation vermieden. Die Archetypen, die dem Be wußtsein praeexistent sind und es bedingen, erscheinen in der Rolle, die sie in Wirklichkeit spie len, nämlich als apriorische Struk turformen des instinktiven Bewußtseinsfundamentes. Sie stellen keineswegs ein An - Sich der Dinge dar, sondern vielmehr die For men, in denen sie angeschaut und aufgefaßt werden. Natürlich sind die Archetypen nicht die einz igen Gründe für das Sosein der Anschauungen. Sie begründen nur den kollektiven Anteil einer Auffassung. Als eine Eigenschaft des Instinktes nehmen sie teil an dessen dynamischer Natur und besitzen infolgedessen eine spezi fische Energie, welche bestimmte V erhaltensweisen oder Impulse veranlaßt oder auch erzwingt, d. h. sie haben unter Umständen possedierende oder obsedierende Gewalt (Numinosität!). Ihre Auf fassung als Daimonia ist daher durch ihre Natur gewährleistet. Wenn jema nd glauben sollte, daß durch dergleichen Formulie rungen irgend etwas an der Natur der Dinge geändert sei, kann er solches nur tun vermöge seiner Wortgläubigkeit. Die wirklichen Tatsachen verändern sich nicht, wenn man ihnen einen anderen Namen gibt. Nur w ir selber sind davon af fixiert. Wenn jemand «Gott» als ein «reines Nichts» auffassen sollte, so hat das mit der Tatsache eines übergeordneten Prinzips gar nichts zu tun. Wir sind genau so possediert wie zuvor; wir haben durch die Veränderung des Namens ni chts aus der Wirklichkeit entfernt, sondern uns höchstens verkehrt dazu eingestellt, wenn der neue Name eine Ab leugnung impliziert; umgekehrt hat eine positive Benennung des Unerkennbaren den Erfolg, uns in eine entsprechende positive Ein stellung zu vers etzen. Wenn wir daher Gott als Archetypus be zeichnen, so ist über sein eigentliches Wesen nichts ausgesagt. Wir sprechen damit aber die Anerkennung aus, daß «Gott» in unserer dem Bewußtsein praeexistenten Seele vorgemerkt ist und daher kei neswegs als Erf indung des Bewußtseins gelten kann. Er wird damit nicht nur nicht entfernt oder aufgehoben, sondern sogar in die Nähe der Erfahrbarkeit gerückt. Letzterer Umstand aber ist inso fern nicht unwesentlich, als ein Ding, das keine Erfahrbarkeit be sitzt, leicht als nicht existent verdächtigt werden kann. Dieser Ver dacht liegt dermaßen nahe, daß sogenannte Gottesgläubige in mei nem Versuch, die primitive unbewußte Seele zu rekonstruieren, ohne weiteres Atheismus vermuten oder wenn nicht das, dann Gno - stizismus, aber ja keine psychische Wirklichkeit, wie das Unbe wußte. Wenn dieses überhaupt etwas ist, so muß es aus entwick lungsgeschichtlichen Vorstufen unserer bewußten Psyche bestehen. Man ist sich ziemlich einig darüber geworden, daß die Annahme, der Mensch sei in seiner ganzen Glorie am sechsten Schöpfungstag ohne Vorstufen geschaffen worden, doch etwas zu einfach und zu archaisch sei, um uns noch zu genügen. In bezug auf die Psyche aber bleiben die archaischen Auffassungen bestehen: sie hat keine archetypische n Voraussetzungen, ist tabula rasa, entsteht neu bei der Geburt und ist nur das, was sie sich selber einbildet zu sein.

Das Bewußtsein ist phylo - und ontogenetisch sekundär. Diese klare Tatsache sollte endlich einmal eingesehen werden. So wie der Körper ei ne anatomische Vorgeschichte von Millionen von Jahren hat, so auch das psychische System; und wie der moderne Men schenkörper in jedem Teil das Resultat dieser Entwicklung dar stellt und überall noch die Vorstufen seiner Gegenwart durchschimmern läßt, so die Psyche. Wie das Bewußtsein entwicklungsge schichtlich in einem uns als unbewußt geltenden tierähnlichen Zu stand begann, so wiederholt jedes Kind diese Differenzierung. Die Psyche des Kindes in ihrem vorbewußten Z ustand ist nichts weni ger als tabula rasa; sie ist allbereits erkennbar individuell praefor - miert und darüber hinaus mit allen spezifisch menschlichen Instink ten ausgerüstet, so auch mit den apriorischen Grundlagen höherer Funktionen.

Auf dieser komplizi erten Basis entsteht das Ich und wird von ihr durch das ganze Leben getragen. Wo die Grundlage nicht funktio niert, entsteht Leerlauf und Tod. Ihr Leben und ihre Wirklichkeit sind von vitaler Bedeutung. Ihr gegenüber ist sogar die Außenwelt von sekundärer Bedeutung, denn was soll sie, wenn mir der endo gene Antrieb fehlt, mich ihrer zu bemächtigen? Kein bewußter Wille wird je auf die Dauer den Lebenstrieb ersetzen. Dieser Trieb tritt uns von innen her als ein Muß oder Wille oder Befehl entge gen, und wenn w ir ihn, wie das sozusagen von jeher geschehen ist, mit dem Namen eines persönlichen Daimonions bezeichnen, so haben wir die psychologische Sachlage wenigstens treffend aus gedrückt. Und wenn wir gar versuchen, den Ort, wo uns das Daimo - nion anfaßt, durch d en Begriff des Archetypus näher zu umschrei ben, so haben wir nichts weggeräumt, sondern nur uns selber der Lebensquelle näher gerückt.

Es ist nichts als natürlich, daß mir als Psychiater (was «Seelen arzt» bedeutet) eine derartige Auffassung naheliegt, de nn es inter essiert mich in erster Linie, wie ich meinen Kranken helfen kann, wieder ihre gesunde Basis zu finden. Dazu ist, wie ich erfahren habe, vielerlei Kenntnis nötig! Der Medizin im allgemeinen ist es ja auch nicht anders gegangen. Sie hat ihre Fort schritte nicht da durch gemacht, daß sie endlich den Trick des Heilens herausgefun den und dadurch ihre Methoden verblüffend vereinfacht hat. Sie ist im Gegenteil in eine unübersehbare Kompliziertheit hineingewach sen, nicht zum mindesten dadurch, daß sie Anleihen auf allen mög lichen Gebieten aufgenommen hat. So liegt es auch mir keineswegs daran, anderen Disziplinen etwas beweisen zu wollen, sondern ich versuche bloß, ihre Kenntnisse für mein Gebiet nutzbar zu machen. Natürlich liegt es mir ob, über diese Verwendung und ihre Folgen Bericht zu erstatten. Man macht nämlich Entdeckungen, wenn man Erkenntnisse des einen Gebietes zu praktischer Verwendung in ein anderes überträgt. Was wäre alles verborgen geblieben, wenn man die Rön tgenstrahlen in der Medizin nicht verwendet hätte, weil sie eine physikalische Entdeckung waren? Wenn die Strahlentherapie unter Umständen gefährliche Folgen haben kann, so ist das für den Arzt interessant, aber nicht notwendigerweise für den Physiker, der seine Strahlen in ganz anderer Weise und für andere Zwecke ver wendet. Er wird auch nicht der Meinung sein, daß der Mediziner ihm etwas am Zeug flicken wolle, wenn ihn dieser auf gewisse schä digende oder hilfreiche Eigenschaften der Durchleuchtung auf me rksam macht.

Wenn ich z. B. historische oder theologische Erkenntnisse im Ge biet der Psychotherapie verwende, so erscheinen sie natürlich in einer anderen Beleuchtung und führen zu anderen Schlü ssen, als wenn sie auf ihr Fachgebiet, wo sie anderen Zwecken dienen, be schränkt bleiben.

Die Tatsache also, daß der seelischen Dynamik eine Polarität zu - grundeliegt, bringt es mit sich, daß die Gegensatzproblematik im weitesten Sinne in die psychologisch e Diskussion gezogen wird, mit allen ihren religiösen und philosophischen Aspekten. Letztere verlieren dabei den selbständigen Charakter ihres Fachgebietes und zwar notwendigerweise, weil sie mit einer psychologischen Frage stellung angegangen werden, d. h . sie werden hier nicht mehr unter dem Gesichtswinkel der religiösen oder philosophischen Wahrheit angesehen, sondern vielmehr auf ihre psychologische Begründung und Bedeutung hin untersucht. Ungeachtet ihres Anspruchs auf selbständige Wahrheit besteht näm lich die Tatsache, daß sie empi. risch, d. h. naturwissenschaftlich betrachtet, in erster Linie einmal psychische Phänomene sind. Diese Tatsache erscheint mir unbestreit bar. Daß sie eine Begründung in und durch sich selber beanspru chen, gehört mit in die psychologische Betrachtungsweise und wird von letzterer nicht etwa als unberechtigt ausgeschlossen, sondern im Gegenteil mit besonderer Aufmerksamkeit berücksichtigt. Die Psy chologie kennt Urteile wie «nur religiös» oder «nur philosophisch» nicht, im Geg ensatz zu dem Vorwurf von «nur psychisch», den man namentlich von der theologischen Seite her nur allzuhäufig hört.


Alle Aussagen, die überhaupt erdenkbar sind, werden von der Psyche gemacht. Sie erscheint u. a. als ein dynamischer Prozeß, der auf der Grun dlage der Gegensätzlichkeit der Psyche und ihrer In halte beruht und ein Gefälle zwischen ihren Polen darstellt. Da Er klärungsprinzipien nicht über die Not hinaus vermehrt werden sollen und sich die energetische Betrachtungswe ise als allgemeines Erklärungsprinzip der Naturwissenschaften bewährt hat, so haben wir uns auch in der Psychologie auf sie zu beschränken. Es liegen auch keine sicheren Tatsachen vor, die eine andere Auffassung als passender erscheinen ließen, und zudem h at sich die Gegensätzlich keit oder Polarität der Psyche und ihrer Inhalte als ein wesentliches Ergebnis der psychologischen Empirie erwiesen.

Wenn nun die energetische Auffassung der Psyche zu Recht be steht, sind Aussagen, welche die durch die Polarität gesetzte Grenze zu überschreiten suchen - also z. B. Aussagen über eine meta physische Wirklichkeit - nur noch als Paradoxa möglich, wenn sie auf irgendwelche Gültigkeit Anspruch erheben sollten. Die Psyche kann nicht über sich selber hinausspringen, d. h. sie kann keine absoluten Wahrheiten statuieren; denn die ihr eigene Polarität bedingt die Relativität ihrer Aussage. Wo immer die Psy che absolute Wahrheiten proklamiert - also z. B. «das ewige Wesen ist Bewegung» oder «das ewige Wesen ist das Eine» - fäl lt sie no - lens volens in den einen oder anderen der Gegensätze. Es könnte ja ebensogut heißen: «Das ewige Wesen ist Ruhe» oder «das ewige Wesen ist das All». In ihrer Einseitigkeit zersetzt die Psyche sich selber und verliert die Fähigkeit zu erkennen. Sie wird zu einem unreflektierten (weil nicht reflektierbaren) Ablauf psychischer Zu stände, von denen jeder sich in sich selber begründet wähnt, weil er einen anderen nicht oder noch nicht sieht.

Damit ist selbstverständlich keine Wertung ausgesprochen, son dern vielmehr die Tatsache formuliert, daß sehr oft und sogar un - vermeidlicherweise die Grenze überschritten wird, denn «Alles ist Übergang». Auf die Thesis folgt die Antithesis, und zwischen den beiden entsteht als Lysis ein Drittes, das zuvor nicht wahrn ehmbar war. Mit diesem Prozeß hat die Psyche nur wieder einmal mehr ihre Gegensätzlichkeit bekundet und ist nirgends wirklich über sich selber hinausgeraten.

Mit meiner Bemühung, die Begrenztheit der Psyche darzutun, meine ich nun eben gerade nicht, daß es nur Psyche gebe. Wir kön nen bloß nicht über die Psyche hinaussehen, wo und insofern es sich um Wahrnehmung und Erkenntnis handelt. Davon, daß es ein nicht psychisches, transzendentes Objekt gibt, ist die Naturwissen schaft stillschweigend überzeugt. Sie weiß aber auch, wie schwierig es ist, die wirkliche Natur des Objektes zu erkennen, namentlich dort, wo das Organ der Wahrnehmungen versagt oder gar fehlt, und wo passende Denkformen nicht vorhanden sind, beziehungs weise erst noch erschaffen werden müssen. In jenen Fällen, wo we der unsere Sinnesorgane noch deren künstliche Hilfsapparate das Vorhandensein eines realen Objektes verbürgen, wachsen die Schwierigkeiten ins Ungeheure, so daß man sich versucht fühlt zu behaupten, es sei überhaupt kein reales Objekt vorhanden. Diesen voreiligen Schluß habe ich nie gezogen, denn ich war nie der Mei nung, daß unsere Wahrnehmung alle Seinsformen zu erfassen ver - möchte. Ich habe daher sogar das Postulat aufgestellt, daß das Phänomen archet ypischer Gestaltungen, also exquisit psychischer Ereignisse, auf dem Vorhandensein einer psychoiden Basis, also einer nur bedingt psychischen, beziehungsweise anderen Seinsform beruhe. Aus Ermangelung empirischer Daten habe ich weder Wis sen noch Erkenntni s von solchen Seinsformen, die man gemeinig lich als «geistig» bezeichnet. In Ansehung der Wissenschaft ist es irrelevant, was ich darüber glaube. Ich muß mich mit meiner Un wissenheit begnügen. Insofern sich aber Archetypen als wirksam erweisen, sind sie mir wirklich, wenn ich schon nicht weiß, was ihre reale Natur ist. Dies gilt natürlich nicht nur von den Archetypen, sondern von der Natur der Psyche überhaupt. Was sie auch immer von sich selber aussagen mag, nie wird sie sich selber übersteigen. Alles Be greifen und alles Begriffene ist an sich psychisch, und inso fern sind wir in einer ausschließlich psychischen Welt hoffnungs los eingeschlossen. Trotzdem haben wir Grund genug, hinter die - sem Schleier das uns bewirkende und beeinflussende, aber unbegrif f ene absolute Objekt als seiend vorauszusetzen, auch in jenen Fällen - insbesondere in dem der psychischen Erscheinungen - wo keine realen Feststellungen gemacht werden können. Aussagen über Mög lichkeit und Unmöglichkeit gelten überhaupt nur innerhalb von Fachgebieten, außerhalb derselben sind sie bloße Anmaßungen. Obwohl es von einem objektiven Standpunkt aus gesehen ver boten ist. Aussagen ins Blaue hinaus, d. h. ohne zureichenden Grund, zu machen, so gibt es doch solche, die anscheinend ohne ob - jektive G ründe gemacht werden müssen. In diesem Fall handelt es sich aber um eine psychodynamische Begründung, die man gewöhn lich als subjektiv bezeichnet und als bloß persönlich ansieht. Man begeht damit den Fehler, daß man nicht unterscheidet, ob die Aus sage wi rklich nur von einem vereinzelten Subjekt ausgeht und von ausschließlich persönlichen Motiven veranlaßt wird, oder ob sie allgemein vorkommt und einem kollektiv vorhandenen dynamischen «pattern» entspringt. In letzterem Fall nä mlich ist sie nicht als sub jektiv, sondern als psychologisch objektiv aufzufassen, indem eine unbestimmte Anzahl von Individuen sich veranlaßt sehen, aus in nerem Antrieb eine identische Aussage zu machen, resp. eine ge wisse Anschauung als vital nötig zu empfinden. Da der Archetypus keine bloß inaktive Form, sondern auch mit einer spezifischen Ener gie ausgerüstet ist, so kann er wohl als causa efficiens derartiger Aussagen betrachtet und als Subjekt derselben verstanden werden. Nicht der persönliche Mens ch macht die Aussage, sondern der Ar chetypus drückt sich in ihr aus. Werden die Aussagen verhindert oder nicht in Betracht gezogen, so treten, wie die ärztliche Erfah rung sowohl wie die gewöhnliche Menschenkenntnis zeigt, psychi sche Mangelerscheinungen auf. Im individuellen Fall sind es neu rotische Symptome, und dort, wo es sich um Menschen handelt, die einer Neurose unfähig sind, entstehen kollektive Wahnbildungen. Die archetypischen Aussagen beruhen auf instinktiven Voraus setzungen und haben nichts m it der Vernunft zu tun; sie sind we der vernünftig begründet, noch können sie durch vernünftige Ar gumente beseitigt werden. Sie waren und sind seit jeher Teile des Weltbildes, «representations collectives», wie sie Levy - Bruhl rich tig bezeichnet hat. Gewi ß spielt das Ich und sein Wille eine große Rolle. Was das Ich will, ist aber in hohem Maße und in einer ihm meist unbewußten Weise durchkreuzt von der Autonomie und Numi - nosität archetypischer Vorgänge. Die praktische Berücksichtigung derselben macht das W esen der Religion aus, soweit diese einer psychologischen Betrachtungsweise unterworfen werden kann."


Abschnitt III (S. 355):

"An dieser Stelle drängt sich mir die Tatsache auf, daß es neben dem Feld der Reflexion ein anderes, mindestens ebensoweit, wenn nicht weiter sich erstreckendes Gebiet gibt, in welchem das ver standesmäßige Begreifen und Darstellen kaum etwas findet, dessen es sich bemächtigen könnte. Es ist das Feld des Eros. Der antike Eros ist sinnvollerweise ein Gott, dessen Göttlichkeit die Grenzen des Menschlichen überschreitet und deshalb weder begriffen noch dargestellt werden kann. Ich könnte mich, wie so viele andere vor mir es versucht haben, an diesen Daimon wagen, dessen Wirksam keit sich von den endlosen Räumen des Himmels bis in die finsteren Abgründe der Hölle erstreckt, aber es entfä llt mir der Mut, jene Sprache zu suchen, welche die unabsehbaren Paradoxien der Liebe adaequat auszudrücken vermöchte. Eros ist ein kosmogonos, ein Schöpfer und Vater - Mutter aller Bewußtheit. Es scheint mir, als ob der Conditionalis des Paulus «und hätte d er Liebe nicht» aller Erkenntnis erste und Inbegriff der Gottheit selber wäre. Was immer die gelehrte Interpretation des Satzes «Gott ist die Liebe» sein mag, sein Wortlaut bestätigt die Gottheit als «complexio oppositorum».

Meine ärztliche Erfahrung sowoh l wie mein eigenes Leben haben mir unaufhörlich die Frage der Liebe vorgelegt, und ich vermochte es nie, eine gültige Antwort darauf zu geben. Wie Hiob mußte ich «meine Hand auf meinen Mund legen. Einmal habe ich geredet, darnach will ich nicht mehr antwor ten» (Hiob XXXIX, 34 f.). Es geht hier um Größtes und Kleinstes, Fernstes und Nahe - stes, Höchstes und Tiefstes, und nie kann das eine ohne das an dere gesagt werden. Keine Sprache ist dieser Paradoxie gewachsen. Was immer man sagen kann, kein Wort drückt d as Ganze aus. Von Teilaspekten zu sprechen, ist immer zuviel oder zuwenig, wo doch nur das Ganze sinngemäß ist. Die Liebe «trägt alles» und «duldet alles» (I Cor. XIII, 7). Dieser Wortlaut sagt alles. Man könnte ihm nichts beifügen. Wir sind nämlich im tie fsten Verstande die Opfer oder die Mittel und Instrumente der kosmogonen «Liebe». Ich setze dieses Wort in Anführungszeichen, um anzudeuten, daß ich damit nicht bloß ein Begehren, Vorziehen, Begünstigen, Wün schen und ähnliches meine, sondern ein dem Einze lwesen über legenes Ganzes, Einiges und Ungeteiltes. Der Mensch als Teil begreift das Ganze nicht. Er ist ihm unterlegen. Er mag Ja sagen oder sich empören; immer aber ist er darin befangen und einge schlossen. Immer hängt er davon ab und ist davon begründ et. Die Liebe ist sein Licht und seine Finsternis, deren Ende er nicht ab sieht. «Die Liebe höret nimmer auf», auch wenn er mit «Engels - 2ungen redete» oder mit wissenschaftlicher Akribie das Leben der Zelle bis zum untersten Grunde verfolgte. Er kann die L iebe mit allen Namen belegen, die ihm zu Gebote stehen, er wird sich nur in endlosen Selbsttäuschungen ergehen. Wenn er ein Gran Weisheit besitzt, so wird er die Waffen strecken und ignotum per ignotius benennen, nämlich mit dem Gottesnamen. Das ist ein Ei ngeständnis seiner Unterlegenheit, Unvollständigkeit und Abhängigkeit, zu gleich aber auch ein Zeugnis für die Freiheit seiner Wahl zwischen Wahrheit und Irrtum."


Kapitel "Rückblick":

"Wenn man sagt, ich sei weise oder ein «Wissender», so kann ich das nicht akzeptieren. Es hat einmal Einer einen Hut voll Wasser aus einem Strom geschöpft. Was bedeutet das schon ? Ich bin nicht dieser Strom. Ich bin an dem Strom, aber ich mache nichts. Die anderen Menschen sind an demselben Strom, aber meist finden sie, sie selber müßten es machen. Ich mache nichts. Ich denke nie, ich sei es, der dafür sorgen müsse, daß die Kirschen Stiele bekommen. Ich stehe da, bewundernd, was die Natur vermag.

Es gibt eine schöne alte Legende von einem Rabbi, zu dem ein Sch üler kam und fragte: «Früher gab es Menschen, die Gott von Angesicht gesehen haben; warum gibt es sie heute nicht mehr ?» Da antwortete der Rabbi: «Weil sich heute niemand mehr so tief buk - ken kann.» Man muß sich schon etwas bücken, um aus dem Strom zu sch öpfen.

Der Unterschied zwischen den meisten anderen Menschen und mir liegt darin, daß bei mir die «Zwischenwände» durchsichtig sind. Das ist meine Eigentümlichkeit. Bei anderen sind sie oft so dicht, daß sie nichts dahinter sehen und darum meinen, es sei a uch gar nichts da. Ich nehme die Vorgänge des Hintergrundes einiger maßen wahr, und darum habe ich die innere Sicherheit. Wer nichts sieht, hat auch keine Sicherheit und kann keine Schlüsse ziehen, oder traut den eigenen Schlüssen nicht. Ich weiß nicht, wa s es aus gelöst hat, daß ich den Strom des Lebens wahrnehmen kann. Es war wohl das Unbewußte selber. Vielleicht waren es die frühen. Träume. Sie haben mich von Anfang an bestimmt.

Das Wissen um die Vorgänge des Hintergrundes hat meine Be ziehung zur Welt s chon früh vorgebildet. Im Grunde genommen war sie bereits in meiner Kindheit so, wie sie noch heute ist. Als Kind fühlte ich mich einsam, und ich bin es noch heute, weil ich Dinge weiß und andeuten muß, von denen die anderen anscheinend nichts wissen und m eistens auch gar nichts wissen wollen. Einsam keit entsteht nicht dadurch, daß man keine Menschen um sich hat, sondern vielmehr dadurch, daß man ihnen die Dinge, die einem_ wichtig erscheinen, nicht mitteilen kann, oder daß man Gedanken für gültig ansieht, die den anderen als unwahrscheinlich gelten. Die Einsamkeit begann mit dem Erlebnis meiner frühen Träume und erreichte den Höhepunkt in der Zeit, als ich am Unbewußten arbei tete. Wenn ein Mensch me hr weiß als andere, wird er einsam. Ein samkeit steht aber nicht notwendigerweise im Gegensatz zu Ge meinschaft, indem nämlich niemand Gemeinschaft mehr empfindet als der Einsame, und Gemeinschaft blüht nur dort, wo jeder Ein zelne sich seiner Eigenart eri nnert und sich nicht mit den anderen identifiziert.

Es ist wichtig, daß wir ein Geheimnis haben und die Ahnung von etwas nicht Wißbarem. Es erfüllt das Leben mit etwas Unper sönlichem, einem Numinosum. Wer das nie erfahren hat, hat Wichtiges verpaßt. Der Mensch muß spüren, daß er in einer Welt lebt, die in einer gewissen Hinsicht geheimnisvoll ist, daß in ihr Dinge geschehen und erfahren werden können, die unerklärbar bleiben, und nicht nur solche, die sich innerhalb der Erwartung er eignen. Das Unerwartet e und das Unerhörte gehören in diese Welt. Nur dann ist das Leben ganz. Für mich war die Welt von Anfang an unendlich groß und unfaßlich.

Ich hatte alle Mühe, mich neben meinen Gedanken zu behaup ten. Es war ein Dämon in mir, und der war in letzter Linie a us schlaggebend. Er überflügelte mich, und wenn ich rücksichtslos war, so darum, weil ich vom Dämon gedrängt wurde. Ich konnte mich nie aufhalten beim einmal Erreichten. Ich mußte weitereilen, um meine Vision einzuholen. Da meine Zeitgenossen begreiflicher weise meine Vision nicht wahrnehmen konnten, so sahen sie nur einen sinnlos Davonlaufenden.

Ich habe viele Leute vor den Kopf gestoßen; denn sobald ich merkte, daß sie mich nicht verstanden, war der Fall für mich erle digt. Ich muß te weiter. Ich hatte - außer bei meinen Patienten - keine Geduld mit den Menschen. Immer mußte ich dem inneren Gesetz folgen, das mir auferlegt war und mir keine Freiheit der Wahl ließ. Allerdings folgte ich ihm nicht immer. Wie kann man ohne Inkonsequenz a uskommen?

Für manche Menschen war ich unmittelbar vorhanden, insofern sie in einem Kontakt zur inneren Welt standen; aber dann konnte es sein, daß ich plötzlich nicht mehr vorhanden war, weil nichts mehr da war, was mich an sie band. Ich hatte es mühsam zu lernen, daß die Menschen noch da sind, auch wenn sie mir nichts mehr zu sagen haben. Viele erweckten bei mir das Gefühl lebendiger Menschlichkeit, aber nur wenn sie im Zauberkreis der Psychologie sichtbar wurden; im nächsten A ugenblick, wenn der Scheinwerfer seinen Strahl woanders hin richtete, war nichts mehr vorhanden. Für manche Menschen konnte ich mich intensiv interessieren, aber sobald ich sie durchschaut hatte, war der Zauber verschwunden. So habe ich mir viele Feinde ge macht. Aber als schöpferischer Mensch ist man ausgeliefert, nicht frei, sondern gefesselt und getrieben vom Dämon. «Schmählich / entreißt das Herz uns eine Gewalt. / Denn Opfer will der Himmlischen jedes, / wenn aber eines versäumt ward, / nie hat es Gutes gebracht» (Hölderlin).

Die Unfreiheit erweckte in mir eine große Trauer. Oft kam es mir vor, als sei ich auf einem Schlachtfeld. Jetzt bist du gefallen, mein guter Kamerad, aber ich muß weiter! Ich kann nicht, kann ja nicht bleiben! «Denn schmählich entre ißt das Herz uns eine Gewalt.» Ich habe dich gern, ja ich liebe dich, aber ich kann nicht bleiben! - Das ist im Augenblick etwas Herzzerreißendes. Ich bin ja selber das Opfer, ich kann nicht bleiben. Aber der Dämon bringt es fertig, daß man durchkommt, und die gesegnete Inkonsequenz bringt es mit sich, daß ich in flagrantestem Gegensatz zu meiner «Untreue» in ungeahntem Maße Treue halten kann.

Vielleicht könnte ich sagen: ich brauche Menschen in höherem Maße als andere und zugleich viel weniger. Wo das Daimo nion am Werke ist, ist man immer zu nah und zu fern. Nur wo es schweigt, kann man mittleres Maß bewahren.

Der Dämon und das Schöpferische haben sich bei mir unbedingt und rücksichtslos durchgesetzt. Das Gewöhnliche, das ich mir vor nahm, zog meist den kürz eren, und auch das nicht immer und überall. Es erscheint mir deshalb, daß ich konservativ bis in die Knochen sei. Ich stopfe mir meine Pfeife aus dem Tabakhafen mei nes Großvaters und hüte noch seinen mit einem Gemshörnlein ge krönten Alpenstock, den er al s einer der ersten Kurgäste von Pontresina zurückgebracht hatte.

Ich bin zufrieden, daß mein Leben so gegangen ist. Es war reich und hat mir viel gebracht. Wie hätte ich so viel erwarten können? Es waren lauter nicht zu erwartende Dinge, die sich ereignete n. Manches hätte vielleicht anders sein können, wenn ich selber an ders gewesen wäre. So war es aber, wie es sein mußte; denn es ist geworden dadurch, daß ich so bin, wie ich bin. Vieles ist durch Ab sieht entstanden, geriet m ir aber nicht immer zum Vorteil. Das meiste aber hat sich natürlich und aus Schicksal entwickelt. Ich be reue viele Dummheiten, die aus meinem Eigensinn entstanden sind, aber wenn ich ihn nicht gehabt hätte, wäre ich nicht zu meinem Ziel gekommen. So bin i ch enttäuscht und bin nicht enttäuscht. Ich bin enttäuscht über die Menschen und bin enttäuscht über mich sel ber. Ich habe Wunderbares von Menschen erfahren und habe selber mehr geleistet, als ich von mir erwartete. Ich kann mir kein end gültiges Urteil b ilden, weil das Phänomen Leben und das Phäno men Mensch zu groß sind. Je älter ich wurde, desto weniger ver stand oder erkannte oder wußte ich mich.

Ich bin über mich erstaunt, enttäuscht, erfreut. Ich bin betrübt, niedergeschlagen, enthusiastisch. Ich bin das alles auch und kann die Summe nicht ziehen. Ich bin außerstande, einen definitiven Wert oder Unwert festzustellen, ich habe kein Urteil über mich und mein Leben. In nichts bin ich ganz sicher. Ich habe keine de finitive Überzeugung - eigentlich von ni chts. Ich weiß nur, daß ich geboren wurde und existiere, und es ist mir, als ob ich getragen würde. Ich existiere auf der Grundlage von etwas, das ich nicht kenne. Trotz all der Unsicherheit fühle ich eine Solidität des Beste - henden und eine Kontinuität me ines Soseins.

Die Welt, in die wir hineingeboren werden, ist roh und grausam und zugleich von göttlicher Schönheit. Es ist Temperamentssache zu glauben, was überwiegt: die Sinnlosigkeit oder der Sinn. Wenn die Sinnlosigkeit absolut überwöge, würde mit höhe rer Entwicklung die Sinnerfülltheit des Lebens in zunehmendem Maße verschwinden. Aber das ist nicht - oder scheint mir - nicht der Fall. Wahrschein lich ist, wie bei allen metaphysischen Fragen, beides wahr: das Le ben ist Sinn und Unsinn, oder es hat Sinn und Unsinn. Ich habe die ängstliche Hoffnung, der Sinn werde überwiegen und die Schlacht gewinnen.

Wenn Lao Tse sagt: «Alle sind klar, nur ich allein bin trübe», so ist es das, was ich in meinem hohen Alter fühle. Lao Tse ist das Beispiel für einen Mann m it superiorer Einsicht, der Wert und Un wert gesehen und erfahren hat, und der am Ende des Lebens in sein eigenes Sein zurückkehren möchte, in den ewigen unerkenn baren Sinn. Der Archetypus des alten Menschen, der genug gesehen hat, ist ewig wahr. Auf jede r Stufe der Intelligenz erscheint dieser Typus und ist sich selber identisch, ob es ein alter Bauer sei, oder ein großer Philosoph wie Lao Tse. So ist das Alter - also eine Beschränkung. Und doch gibt es so viel, was mich erfül lt: die Pflanzen, die Tiere, die Wolken, Tag und Nacht und das Ewige in den Menschen. Je unsicherer ich über mich selber wurde, desto mehr wuchs ein Gefühl der Verwandtschaft mit allen Dingen. Ja, es kommt mir vor, als ob jene Fremdheit, die mich von der W elt solange getrennt hatte, in meine Innenwelt übergesiedelt wäre und mir eine unerwartete Unbekanntheit mit mir selber offenbart hätte."

BUCH ENDE


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